Kunst, die nur aus Kunst lebt, ist langweilig.
Kunst, die individuelle Erfahrung direkt umsetzen will, ist schlechte Kunst.
In ihren Arbeiten gelingt Nicola Irmer das Paradox, hoch formalisierte Malerei offen zu halten für Fragestellungen, die
umfassender sind als rein künstlerische Phänomene.
Wie bei ihren frühen Arbeiten ist der erste Eindruck des Betrachters deren Farbigkeit, doch scheint es, als hätten sich Schleier über die Leinwände gelegt. Die Intensität der einzelnen Ölfarben und Kreiden ist zurückgenommen, stattdessen treten die Beziehungen zwischen Farbfeldern deutlicher ins Auge.
Das Brechen der ursprünglichen Farbwerte schickt das Auge des Betrachters auf die Suche nach dem Mittelpunkt der
Arbeit.
Sobald der Betrachter beginnt, den Kompositionsprinzipien einer Arbeit von Nicola Irmer auf die Spur zu kommen, tritt er ein in den Nachvollzug des künstlerischen Prozesses:
Nicola Irmer beginnt eine Arbeit, indem sie auf der leeren Fläche der Leinwand einen oder mehrere Schwerpunkte setzt. Dabei kann es sich um einen initiierenden Farbauftrag oder auch um eine Photographie handeln.
Damit ist der weitere Verlauf der Arbeit nicht festgelegt, jedoch eine Frage gestellt: Wie verhält sich eine derartige Farbinsel zur Fläche und deren Grenzen, wie zu anderen Schwerpunkten auf der Fläche?
Während die Oberfläche Farb-um Farbschicht wächst, verändern sich die Gewichte auf der Leinwand.
Es ist eine uralte Frage der Philosophie: Welche Kategorie ist wichtiger: Substanz oder Relation? Wird ein Seiendes dadurch definiert, was es selbst ist, oder macht erst die Beziehung zu einem anderen ein Einzelnes zu dem, was es ist?
Die Stufen des Arbeitsprozesses sind jeweils reflektiert, das Ergebnis trotzdem nicht festgelegt, da jede Setzung auf der
Leinwand die Künstlerin zu neuen Entscheidungen zwingt, bis die Arbeit schließlich jenes vibrierende Gleichgewicht zwischen scheinbar schwebenden, sich jeweils bedingenden Farbfeldern zeigt, das für
die Arbeiten von Nicola Irmer so charakteristisch ist.
Thomas Baltrock, Lübeck